Eine Frau für Ausnahmesituationen

Dr. Vera Kühne im grenzenlosen Einsatz auf fünf Kontinenten

SCHWEINFURT (ul) „Ich hatte immer das Gefühl, etwas zurückgeben zu müssen. Mich nicht in meinem bequemen, angenehmen Leben hier in Europa einschließen zu können.“ Vera Kühne ist gerade einmal 30 Jahre alt und frischgebackene Ärztin, als sie diesem Gefühl Taten folgen lässt. 1999 geht sie in den vom Bürgerkrieg gebeutelten Südsudan ins Buschkrankenhaus von Rumbek, der völlig zerstörten einstigen Distrikthauptstadt.

Die junge Frau landet in einer völlig anderen Welt. Sie soll als medizinische Koordinatorin arbeiten, aber alles, was sie von zu Hause kennt, gibt es nicht. Keinen Operationsaal und auch nicht den versprochenen Chirurgen, dafür Skorpione, Schlangen und Plumpsklos. Was sie erlebt, ist ebenso abenteuerlich. Da wird ein Mann mit einem zerschossenen Fuß gebracht. Es ist klar, dass dieser Fuß amputiert werden muss, aber der Dinka weigert sich. Dann taucht eine beeindruckende Gestalt aus dem Busch auf. Kühne beschreibt: „Ein bestimmt zwei Meter großer Mann im Leopardenfell, seine Haut war die dunkelste, die ich je gesehen hatte. Auf dem Kopf trug er eine Haube aus langen schwarzen Federn. In der Hand hielt er einen zweieinhalb Meter langen, verzierten Speer.“ Die Dinka begegneten ihm voller Ehrfurcht und Kühne erkannte schnell: das war ihr sudanesischer Kollege, ein „Medizinmann“. Ihr Team lehnte den „traditional healer“ ab, aber sie überlegte sich, wie es wohl anderes herum wäre. „Wenn mir das passieren würde, hätte ich auch gerne jemanden aus meinem Kulturkreis dabei.“ Also durfte der Dinka-Kollege den Fuß des Mannes untersuchen, „erstaunlich feinfühlig und professionell“, erinnert sich Kühne. Er gab grünes Licht für die Amputation, die Kühne dann ohne jeden Widerstand durchführen durfte.

Acht Monate blieb die junge Ärztin im Sudan, bei ihrem Abschied bekam sie von einem alten Stammeshäuptling einen Auftrag: Wenn sie schon zurückgehe, dann solle sie der Welt wenigstens berichten, wie es bei ihnen zugeht. Es sollte noch einige Jahre und viele Auslandseinsätze mehr dauern, bis Kühne dieser Forderung nachkam und aus ihren Tagebuchaufzeichnungen ein Buch über ihr „Leben als Ärztin in Krieg und Frieden“ entstand.

Erst einmal kam für die junge Frau der Kulturschock. Wieder zurück in Deutschland, steht sie hilflos im Supermarkt. „Dieses Überangebot hat mich total überfordert. Der Familie würde sie gerne erzählen, wie es ihr ergangen ist. Aber auf der einen Seite fehlen die Worte und auf der anderen das Verstehen. „Ich war einerseits froh, wieder zuhause zu sein, und trotzdem wollte ich gleich wieder weg“, erinnert sie sich.

Papua-Neuguinea, Mazedonien, Haiti, das Kosovo und Afghanistan, Kühne geht noch oft weg. „Ich bin ein bisschen undeutsch“, erklärt sie. „Ich schaue nicht so auf die Probleme. Wenn ich immer vorher schon darüber nachgedacht hätte, was alles schiefgehen kann, ich hätte nichts von dem gemacht, was ich tat.“ Auch wenn sie von sich sagt: „Ich bin der Typ für den Ausnahmezustand“ – heute ist sie bei sich angekommen. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Bundeswehroffizier Hubertus Kühne, hat sie ihre „Logbasis Inland“ bei Bamberg aufgeschlagen. Während ihrer Aufenthalte in der Heimat arbeitet sie freiberuflich als Notfallmedizinerin, Chirurgin oder Gutachterin, unter anderem im Krankenhaus St. Josef in Schweinfurt. Durch ihren Mann kam sie auch zur Bundeswehr. Einiges ist dort für sie leichter. „Ich bin um viele Erfahrungen älter“, erklärt sie. Außerdem sei dies ein anderes System. Dort nehme man bei einem Auslandseinsatz seine „Familie“, die Kameraden ein Stück weit mit. Dafür gibt es andere Herausforderungen. Kühne erinnert sich, wie einmal ein Afghane mit Kopfschuss vor dem Lagerzaun abgelegt wurde. In ihrem Kopf lief sofort das „Notarztprogramm“ ab. Aber sie durfte nicht viel machen. Von den sechs Notfallbetten waren bereits drei mit Afghanen belegt, die anderen mussten frei bleiben für eventuell verletzte deutsche Soldaten. So konnte sie nur die Wunde reinigen und versorgen und die Afghanen nahmen ihren Mann wieder mit – für ihn das Todesurteil. „Ich komme damit klar“, sagt sie. Sie habe schließlich vorher gewusst, worauf sie sich einlässt, „aber es ist schon schwierig.“

Für Kühne wieder eine „Grenzerfahrung“. Vera Kühne ist eine Frau, die Erfahrung damit hat, eigene Grenzen zu überschreiten, sowohl körperlich als auch seelisch. „Es hat mich schon immer gereizt, hinter Mauern und Grenzen zu schauen und zu entdecken, was dahinter ist“, sagt sei. Für diese Neugier hat sie einen ebenso hingebungsvollen wie abenteuerlichen Lebensweg gewählt.
Wer Dr. Vera Kühne persönlich erleben will, ist eingeladen zu einer Autorenlesung am 8. Mai um 20 Uhr ins Internationale Begegnungszentrum für Frauen, Wilhelmstraße 17.

Zur Info::
Vera Kühne, Jahrgang 1968, ist Chirurgin mit Zusatzausbildungen in Tropenmedizin und dem Versorgen von Kriegsverletzungen und Schusswunden. Ihre ehrenamtlichen Auslandseinsätze führten sie bisher auf fünf Kontinente. Ihr Buch „Grenzenlos, Mein Leben als Ärztin in Krieg und Frieden“ ist im Pattloch-Verlag erschienen.